Sie sind nicht vergessen
Wie oft sagen wir zueinander „Heute habe ich eine Untersuchung oder Operation, bitte denk an mich“. Oder „Heute habe ich ein Bewerbungsgespräch, eine Prüfung, bitte bete für mich“. Vielleicht zünden
wir auch eine Kerze an, zu Hause oder in einer Kirche.
Hilft Beten? Geht eine Prüfung besser, wenn jemand für uns eine Kerze anzündet?
Rein rational ist es nicht zu erklären. Und doch: Es ist eine Energiezufuhr, wenn andere uns mögen, gernhaben, Lasten mittragen oder einfach da sind. Wenn sie an uns denken.
Zu Allerseelen denken wir an die Verstorbenen. Rationale Geister werden jetzt vielleicht fragen: Was haben die Toten von einer Energiezufuhr, wo sie doch nicht mehr da sind? Eine Antwort darauf ist: Es gehört zu unserer Erinnerungskultur, die Frage nach den Verstorbenen und ihrem Geschick wachzuhalten. Ganz so, wie es ein bekannter Satz von Immanuel Kant zum Ausdruck bringt: „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“
Doch wir Christinnen und Christen haben noch eine andere Antwort: Wir erinnern uns der Toten nicht, damit sie leben – sondern weil sie leben. Und wir glauben an ein Leben und die Gemeinschaft mit ihnen über den Tod hinaus.
Die Kirche gedenkt nicht nur zu Allerseelen, sondern in jedem Gottesdienst der Menschen, die uns vorausgegangen sind. Sie schenkt ihnen Raum, nennt sie beim Namen und bewahrt sie im Gedächtnis. ♦
Dr. Manfred Scheuer ist Bischof der Diözese Linz. |
Der Text erschien zuerst im Magazin "Grüß Gott!", das zwei Mal im Jahr von der Katholischen Kirche in Oberösterreich herausgegeben wird.
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