Wie lerne ich beten?
Beginnen wir mit mir, dem Autor dieser Geschichte. Wenn es ums Beten geht, sollten Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Also: Fahre ich mit dem Motorrad, halte ich gerne vor einer Wallfahrtskirche. Wenn die Sonne scheint, fühle ich, was ich zum ersten Mal im italienischen Assisi gespürt habe: Kraft, die ich mit Hingabe einatme (um dabei mindestens zwei Zentimeter zu wachsen). Als Bub spielte ich in unserer kleinen Kirche auf einer Kinderorgel in der Mette. Als Erwachsener war ich ihr so fern, wie’s nur vorstellbar ist. Aber ich werde mich für immer an den Moment erinnern, in dem Papst Johannes Paul II. im Juni 1998 den Dom in Salzburg betrat, und daran, dass ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, als ich vor Jahren im Petersdom an seinem Grab stand.
Warum ich mir während einer Autofahrt die Frage stellte, wie Beten geht, weiß ich nicht. Vielleicht war’s der Heilige Geist (und das ist nicht ironisch gemeint). Was ich sagen will: Ich bin ein normaler Mensch, mit Zweifeln und dem Wunsch nach einem Hort der Sicherheit und einem geglückten Leben.
Ich treffe Irmgard Lehner im Pfarrzentrum Wels-St. Franziskus. Die Seelsorgerin hat die Pfarre sechzehn Jahre lang geleitet, bevor sie in der Katholischen Kirche in Oberösterreich zur Leiterin des Fachbereiches Seelsorgerinnen und Seelsorger in Pfarren bestellt wurde. Mit ihr spreche ich übers Beten und hoffe auf eine Anleitung, die mir hilft, es richtig zu machen.
Wolfgang Wieser: Wo kann ich beten? Nur in der Kirche oder, sagen wir, auch beim Autofahren?
Irmgard Lehner: Beten ist Kommunikation mit Gott. Tiefgehende Gespräche führe ich als Autofahrerin nicht. Wenn mir das Herz übergeht, ist aber jeder Ort ein Ort zum Beten.
Gibt es etwas, was Beten fördert – etwas, was gut für die Sammlung ist?
Man sollte eine Haltung einnehmen, die keine Probleme bereitet. Wer Knieschmerzen hat, sollte nicht knien. Die Erfahrung zeigt, dass es Körperhaltungen gibt, die etwas auslösen. Im Stehen spüre ich mich anders als im Sitzen oder Liegen. Es ist gut, eine Körperhaltung einzunehmen, die hilft, wach zu sein. Die Hände ineinanderzulegen – egal ob gefaltet oder mit verschränkten Fingern – hat sammelnde Wirkung.
Immer ein Kreuzzeichen?
Nicht immer. Bei gemeinschaftlichen Gebeten wird meist ein Kreuzzeichen gemacht, um einen Rahmen zu bilden. Im Grunde ist ein Kreuzzeichen ein ganz kurzes Gebet – es sagt, dass ich getauft bin und mich hineinstelle in das Vertrauen auf Gott.
Gibt es eine korrekte Anrede?
Für Gott ist das nicht entscheidend. Was für Sie am besten passt. Ich sage einfach „Gott“.
Wie geht’s weiter?
Ich sage: „Gott, hier bin ich – mit allem, was zu mir gehört.“ Manchmal ist das auch mein ganzes Gebet.
Welches Gebet ich wählen soll, frage ich.
Einen der 150 Psalmen, schlägt mir Irmgard Lehner vor. Ich lese sie, besonders genau Psalm 22 und 23, die bei der Totenmesse von Papst Johannes Paul II. gebetet wurden. Sie enthalten bekannte Zeilen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen …“ und „Der Herr ist mein Hirte …“. Die Sprache ist mir fremd, den Inhalt finde ich streng. Ob Alternativen erlaubt sind? „Es können auch Gebete von Zeitgenossen sein – wie von einem Andreas Knapp oder einer Carola Moosbach“, sagt die Seelsorgerin.
Wenn ich sage, ich finde den Dichter Rainer Maria Rilke gut, gilt der auch?
Ja, der gilt auch.
Also blättere ich in Rilkes „Stundenbuch“ (einem Gedichtzyklus; Teil 1 hieß ursprünglich „Die Gebete“), suche nach Zeilen, die mich ansprechen. Ich glaube, ein geeignetes Gedicht gefunden zu haben. Am nächsten Tag gefällt es mir nicht mehr. Ich probiere es mit einem „Vaterunser“ und einem „Gegrüßet seist du, Maria“. Die Zeilen kann ich, aber die Wärme von Assisi spüre ich nicht.
Woran erkenne ich, dass mir ein Gebet geholfen hat? Oder, pointierter: Wann weiß ich, dass Gott mich gehört hat?
Sie wissen, dass Gott Sie gehört hat, wenn Sie Vertrauen haben, dass Beten einen Sinn hat. Dieses Vertrauen bewirkt etwas. Weil ich mich in einem größeren Zusammenhang erfahren habe und spüre und erlebe – das weitet etwas in mir. Bei betenden Menschen, für die das Gebet etwas Wesentliches ist, spürt man, dass diese Menschen gelassener, ja, sogar ein Stückerl liebevoller sind.
Wie fühlen Sie sich nach einem Gebet?
Manchmal so kribbelig wie vorher, manchmal gut in meiner Mitte. Es ist verschieden.
Ich frage, weil ich wissen möchte, was das Ziel des Betens ist.
Für mich: in der Gegenwart Gottes bei Gott zu sein.
Ist Beten ein Weg zur Selbsterkenntnis?
Ich glaube, das geht parallel. Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gehen parallel. Es gibt das eine nicht ohne das andere.
Während ich in Rilkes „Stundenbuch“ blättere, fallen mir aus dem Nichts sehr bekannte Verse ein. Sie gehen so: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt, / Dem will er seine Wunder weisen / In Berg und Tal und Strom und Feld“ (Joseph von Eichendorff ). Ich schließe die Augen und probiere es noch einmal, die Zeilen kann ich auswendig: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen …“ Ich lache befreit, ja, das ist es. Ich atme tief ein. Fühlt sich gut an. Sonnig. Warm. Ich rücke mir näher. Der Anfang ist gemacht.
Der Artikel erschien erstmals in "Grüß Gott – Magazin über Gott und die Welt", Frühjahr 2023. Alle Magazine zum Durchblättern: GrüßGott - Das Magazin der Katholischen Kirche in Oberösterreich (dioezese-linz.at)