Fünf Schritte zur Vergebung
Wir alle kennen das. Wir tragen etwas mit uns herum. Etwas, was man von außen gar nicht sehen kann. Eine Last, an der wir schwer zu tragen haben. Und je länger wir sie für uns behalten, desto schwerer wird sie. Es kann die Erinnerung an eine alte Beziehung sein, die vor Jahren im Streit auseinanderging. Oder es kann eine jugendliche Dummheit sein, die man einst begangen hat und die seitdem gut versteckt im hintersten Eck des Gedächtnisses sitzt. Und wie jeder Mensch trage auch ich solche Lasten mit mir herum. Doch bevor es vielleicht zu spät ist, wollte ich lernen, wie man mit ihnen umgeht. Lernen, zu vergeben – mir selbst und anderen. Von kaum jemandem kann man das besser lernen als von Melanie Wolfers, Theologin, Ordensfrau und Buchautorin.
Melanie Wolfers, 48, zählt zu den bekanntesten christlichen Autorinnen im deutschsprachigen Raum. Sie arbeitete als Seelsorgerin, leistete Sozialarbeit in Palästina und trat 2004 dem Orden der Salvatorianerinnen in Wien bei. Heute leitet sie IMpulsLEBEN, ein Projekt für junge Erwachsene auf der Suche nach Lebensorientierung und sozialem Engagement. (Foto: Andreas Jakwerth)
„Zu vergeben und sich zu versöhnen, das sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe“, sagt Melanie Wolfers und schenkt heißen Ingwertee in die Schale vor mir ein. Das eine ist ein innerseelischer, das andere ein zwischenmenschlicher Akt. Sprich, für die Versöhnung braucht man einen zweiten Menschen. Die Vergebung wiederum hängt von niemand anderem als mir selbst ab. „Es ist wohl eine Frage der inneren Kraft, die man zur Verfügung hat“, sagt Wolfers.
Wie lässt man also die Vergangenheit los, wenn sie immer noch allgegenwärtig ist, frage ich. Wie schließt man mit etwas ab, woran man nicht erinnert werden möchte? Wolfers lächelt mich an. „Am besten, wir versuchen es einmal mit den fünf Schritten aus meinem Buch.“ Die 48-jährige Ordensfrau ist „Spiegel“-Bestsellerautorin und hat ein 200 Seiten starkes Buch über die Kraft der Vergebung geschrieben.
1. Die Wunden zeigen
„Vergebung ist ein höchst aktiver Prozess, der als ersten Schritt verlangt, dass ich mich meinen Gefühlen stelle.“ Weil aber niemand gerne seinen Ängsten direkt in die Augen blickt, verdrängen wir erst einmal. Darin sind wir Menschen unglaublich gut. Das bedeutet, wir kleben unsere seelischen Wunden einfach zu, berühren sie nicht mehr und lassen sie so lange in Ruhe wie möglich. Das Problem ist aber – diese Wunden heilen nicht. Sie bleiben offen, entzünden sich. Und das Resultat sind dann Panikattacken, Depressionen, seelische Burn-outs bis hin zu realen körperlichen Leiden.
Und spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, um seine Wunden atmen zu lassen und vor allem eines zu tun: Schwäche zu zeigen. Darin sind wir Menschen bekanntlich weniger gut. Aber genau das braucht es, „die Offenlegung seelischen Schmerzes, um den eigenen Gefühlen eine Audienz zu gewähren und sie wirklich wahrzunehmen“, sagt Wolfers.
2. Den Schmerz verstehen lernen
Und dann braucht es Zeit. Aber nicht, weil die Zeit alle Wunden heilt – daran glaubt Wolfers nicht. Vielmehr ist etwas Abstand nötig, „um einen realistischeren Blick auf die Situation und das Ausmaß der Kränkung zu gewinnen“. So erkennen wir vielleicht die Hintergründe des Schmerzes, entdecken die eigenen Anteile am Konflikt und können die Sache leichter „gut sein lassen“.
Wolfers kennt keine Eile, weder beim Schreiben ihrer Bücher noch im Gespräch mit Menschen. (Foto: Andreas Jakwerth)
3. Eine neue Sicht gewinnen
Sobald das Leiden einer objektiven Wahrnehmung unterliegt, gilt es, eine neue Perspektive auf die Situation zu gewinnen. Anstatt auf Dauer die Frage nach dem Warum zu stellen – diese wäre ja rückwärtsgerichtet –, fragen wir nun nach dem Wozu. Diese Frage zeigt nämlich nach vorne und verlangt nicht nur eine Antwort, sondern auch eine Lektion: Es liegt nun an uns herauszufinden, was wir aus der Geschichte des Schmerzes mitnehmen. Halte ich an der Vergangenheit fest oder widme ich mich lieber der Zukunft?
„Vergebung heißt, damit aufzuhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen."
4. Das Vergangene verabschieden
„Vergebung heißt, damit aufzuhören, auf eine bessere Vergangenheit zu hoffen“, sagt Wolfers. Dafür braucht es eine aktive Entscheidung, um sich aus der vermeintlichen Opferrolle zu befreien – der vierte und vielleicht schwierigste Schritt. Das hat schon der Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu in seinem Werk über die Vergebung festgehalten. „Diesen Vorgang bezeichnet er als eine innere Unabhängigkeitserklärung an sich selbst“, erklärt Wolfers. Ich nicke ihr weiter zu und nehme wieder einen Schluck Tee.
5. Vergebung geschehen lassen
Mittlerweile sind wir aber beim letzten Schritt angelangt, und ich spitze die Ohren: „Vergebung geschehen lassen“. Aha. Wolfers erkennt den Zweifel in meinem Gesichtsausdruck, und ihre Mundwinkel wandern abermals nach oben. „Vergebung wächst heran, sie reift, und dann passiert es wie von selbst“ – wenn man die Zügel aus der Hand gibt und Vertrauen in die Zukunft hat.
Und was, wenn ich nicht vergeben kann? Wenn mir eine Ungerechtigkeit widerfahren ist, für die ich nichts kann? Wenn mich eine schwere Krankheit befallen hat? „Niemand muss vergeben“, sagt Wolfers und senkt diesmal den Kopf. In bestimmten Belangen werden wir wohl alle unversöhnt bleiben. „Doch wenn mein Boot nicht in Richtung Vergebung unterwegs ist, dann steuere ich Verbitterung an.“ Dann habe ich es nicht probiert. Dann schützt mich meine seelische Rüstung zwar vor neuen Kränkungen, aber ich kann auch keine Nähe mehr erleben. „Und Sie wollen doch nicht als einsamer Wolf durchs Leben ziehen?“
Grüß-Gott-Redakteur Robert Maruna fragt nach, wie man richtig vergibt. (Foto: Andreas Jakwerth)
Ich schüttle Wolfers zum Abschied die Hand, sie wünscht mir alles Gute.
In den folgenden Wochen befolge ich ihre Schritte, doch nichts passiert. Der Aha-Moment kommt erst viel später, wenn man nicht damit rechnet. Das braucht eben Zeit. Und ein bisschen innere Kraft.
Melanie Wolfers
Die Kraft des Vergebens
Wie wir Kränkungen überwinden und neu lebendig werden.
Herder Verlag, € 14,40.
Dieser Beitrag erschien im Magazin "Grüß Gott! - Das Magazin über Gott und die Welt" in der Ausgabe 2 / Frühling 2020. Das Magazin wird von der Diözese Linz herausgegeben und erscheint zwei Mal im Jahr.