Wo sitzt die Seele?
„Die Seele ist unsere Persönlichkeit”
Wir alle wissen vom klassischen Erzählmuster im Christentum: „Die Seele sitzt im Körper, und nach dem Tod steigt sie zu Gott auf.“ Doch dabei gilt es erst einmal zu klären: Was ist denn überhaupt mit „Seele“ gemeint?
Thomas von Aquin, einer der bedeutendsten Theologen der römisch-katholischen Kirche, beschreibt die Seele als ein „Formprinzip des Leibes“, also als etwas, was den Leib gestaltet und ihn zu einer Einheit macht. Aber dabei ist die Seele nichts Dinghaftes, also nichts, was man anfassen könnte. Sie organisiert vielmehr unsere Milliarden Körperzellen zu etwas Einzigartigem.
Die Seele ist, wenn man so will, unsere Individualität, unsere Persönlichkeit – und wir werden bereits damit geboren, denn der Beginn des menschlichen Lebens wird immer als ein „Beginn mit Leib und Seele“ gesehen. Bleibt die Frage, wohin die Seele geht, wenn der Tod eintritt.
Im Katechismus ist geschrieben: Die Seele ist unsterblich. In der Bibel hingegen heißt es, dass der ganze Mensch stirbt. Zerfällt der Körper, zerfällt auch die Seele. Ein Ende bedeutet das trotzdem nicht, denn der Glaube an die Auferweckung besagt, dass Leib und Seele von Gott neu geschaffen werden. Man kann es aber auch so sehen: Wir sind als einzigartige Menschen gewollt und geliebt. Und weil dem so ist, gibt Gott uns auch in der Ewigkeit eine Existenz.
Univ.-Prof. Dr. MICHAEL ROSENBERGER
ist Universitätsprofessor am Institut für Moraltheologie
an der Katholischen Privat-Universität Linz.
„Die Seele ist etwas, was sich ständig verändert”
Wer kennt das nicht? Viele legen die Hand aufs Herz, wenn es darum geht, einen seelischen Zustand zu beschreiben. Und mit „Bauchgefühl“ versuchen wir, eine „Ahnung“ zu beschreiben, die auf Wissen basiert, das man nicht bewusst abrufen kann. Zu sagen, „die Seele sitzt im Herz, im Bauch oder im Kopf“, wäre dennoch nicht richtig.
Die moderne Psychologie sieht die Seele als Gesamtheit des Individuums und etwas nicht Greifbares. Der Begriff wird auch oft synonym mit „Psyche“ verwendet, obwohl bei „Seele“ deutlich mehr Aspekte mitschwingen, zum Beispiel die religiöse Komponente, dass die Seele über den Tod hinaus bestehen kann … Und auch wenn die Hirnforschung sagt, alle Emotionen sind neuronale Aktivitäten – die Seele darauf zu reduzieren greift zu kurz. Zum einen, weil wir in der Psychologie wissen, dass der Geist mit dem Körper kommuniziert: In der Meditation und bei Hypnose sieht man, dass wir autonome Funktionen des Körpers mit unseren Gedanken steuern können. Zum anderen können wir uns mit anderen Menschen synchronisieren und unsere seelischen Zustände teilen, um uns verbunden zu fühlen. Auch Dinge, die in der Vergangenheit passiert sind – oft über Generationen hinweg –, beeinflussen unser Denken, Empfinden und Handeln. Insofern ist die Seele etwas, was sich ständig verändert – sie ist die Summe aus Körper, Geist und Erfahrungen.
Mag.a Dr.in CLAUDIA HOCKL
ist Gesundheitspsychologin und Klinische Psychologin.
„Die Seele ist die Gesamtheit, die den Menschen ausmacht”
Es stimmt, dass viele Empfindungen, die manche der „Seele“ zuschreiben würden, im Bauch zu spüren sind: Angst, Freude, Nervosität, Verliebtheit … Auch Entscheidungen treffen wir oft aus einem „Bauchgefühl“ heraus. Dabei kommt es zu einem Zusammenspiel aus körperlichen Symptomen – es bestehen Verbindungen zwischen dem Gehirn, dem Zentralnervensystem und dem Nervensystem im Bauchraum – sowie Intuition, Bewusstsein und zum Beispiel der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Aber aus medizinischer Sicht lässt sich natürlich nicht sagen: Die Seele sitzt im Bauch. Und ich denke auch nicht, dass der Hauptteil der Seele dem Bauch oder einem anderen Teil des Körpers zugeordnet werden kann.
Ich glaube eher: Es ist die Gesamtheit, die den Menschen ausmacht. Und diese Gesamtheit setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, die vielleicht tatsächlich auch an unterschiedlichen Stellen zu finden sind. Als Mediziner kann ich also mit keiner Antwort dienen, wo die Seele sitzt. Aber ich kann erklären: Unsere Bauchgefühle sind individuell. Das hat vor allem mit der Komplexität des Nervensystems zu tun. Es gibt Menschen, die einen Reizdarm haben, wenn sie sich ärgern – und andere entwickeln diesen nicht. Das Nervensystem ist nicht bei jedem gleich ausgeprägt oder spricht auf die gleichen Reize an.
ist Leiter der Abteilung für Allgemeine Chirurgie und
Viszeralchirurgie am Ordensklinikum Linz.
Der Beitrag ist in der Frühjahrsausgabe 2023 von "Grüß Gott! – Magazin über Gott und die Welt" erschienen. Das Magazin wird zwei Mal jährlich von der Katholischen Kirche in Oberösterreich herausgegeben.
Alles bisher erschienenen Ausgaben zum Durchblättern: GrüßGott - Das Magazin der Katholischen Kirche in Oberösterreich (dioezese-linz.at)