Warten auf Emilia
Manchmal, da ist nur Stille in mir. Ein großes Schweigen, eine Art Vakuum. Ab und an seufze ich an solchen Tagen und spüre dadurch, dass mein Innerstes übergeht. Es ist kein schönes Gefühl. Vor nicht allzu langer Zeit, vor ein paar Monaten vielleicht, da hatte ich einen solchen Tag. Ich saß im Garten und wartete auf Emilia. Emilia war ein Sternenkind. Ihr Vater hatte mich angerufen. Zwei Tage war das inzwischen bereits her. Das kleine Mädchen ließ sich Zeit mit ihrem Zur-Welt-Kommen. Im Grunde ist es ja kein Kommen, es ist ein Gehen. Jeder Betroffene weiß das, während gewartet wird. Über meinen eigenen Sohn schrieb ich einmal: Er starb zur Welt. Vier Worte nur, die zeigen, worum es geht. Während ich also im Garten saß, da wartete ich nun darauf, dass Emilia zur Welt starb. Der Vater hatte gemeint, er werde mich sofort anrufen, dann könne ich losfahren.
Oftmals fahren wir los. Meine Frau und ich, wir werden gerufen und fahren dann los. In irgendeine Klinik im Umkreis von drei Autostunden. Wir fotografieren Sternenkinder. Deshalb die Sache mit Emilia. Der Vater hatte mich gebeten, seine Tochter nach der Geburt zu fotografieren. Wenn wir einen Anruf erhalten, dann packen wir unsere Rucksäcke. Einen mit Babywäsche, einen mit dem Kameraequipment. Ich führe stets mehrere Akkus, mehrere Kameras, mehrere Speicherkarten, Reflektoren und eine batteriebetriebene Miniaturlampe mit mir. Wir wissen um die Bedeutung des ersten und letzten Bildes, das wir von einem Erdenmenschen machen. Wir wissen um den Moment, in dem alles zusammenfällt: das Werden und das Nichtsein. Die Eltern werden die Bilder den Rest ihres Lebens betrachten. Ich werde wohl selbst längst tot sein, wenn sie die Aufnahmen zu den Jahrestagen herausholen, darüberstreicheln, sie mit Tränen tränken. Sternenkindeltern vergessen nicht. Sternenkindeltern trauern ein Leben lang. Sternenkindeltern bleiben dabei meist sich selbst überlassen. Deshalb fotografieren wir. Es sind stets wertvolle Momente, wenn wir die Patientenzimmer betreten. Jede Begegnung wird von einer Zartheit und Tiefe begleitet, die im Leben sonst nicht zu finden ist. Jedes Kind, das wir fotografieren dürfen, ist schön. „Man kann die Seele sehen“, sage ich oft.
Auch wir betrachten ein Bild. Es gelang mit einer alten Polaroidkamera. Ich habe es am 26. April 1995 gemacht. Es zeigt einen kleinen Körper, gerade einmal 32 Zentimeter lang. Unser Sohn Pablo wog 700 Gramm und ein bisschen mehr. Doch am Ende blieb das ganze Gewicht der Welt zurück. Pablo war nicht unser erstes Sternenkind gewesen. Dennoch musste ich diesen Satz damals das erste Mal denken: Er stirbt zur Welt.
Meine Frau und ich, wir wissen seit 30 Jahren: Es geschieht. Es geschieht jeden Tag und betrifft jede zweite Frau mindestens ein Mal in ihrem Leben.
Rainer Juriatti
Sternenkindeltern erhalten Diagnosen. Man sagt ihnen, dass ihre Freude, ihr Glück, ihre Hoffnung nun tot sei. Und oft: Man müsse das Kind zur Welt bringen, auf natürlichem Wege. So beginnt das Warten. Warten auf Emilia. Und dann: eine stille Geburt. So sagt man. Weil nichts darauf folgt. Unumgänglich. Absolut. Nichts. Nur Stille. Keine Mutter ist bereit, auf diesen Moment aktiv hinzusteuern. Deshalb dauert es. Emilias Vater rief am späten Nachmittag an und meinte, es tue sich noch nichts. Das spiele keine Rolle, antwortete ich, nur die Mutter und ihr Kind führten hier Regie, er könne mich gerne bis tief in die Nacht anrufen.
Väter funktionieren. Zumeist. Väter organisieren. Oft. Im Nebel des Schmerzes sagt man uns, wir müssten jetzt stark sein für unsere Frauen. Wir haben keine Ahnung, wie das gehen soll. Es ist schwer, die Nase über Wasser zu halten. Wir flüchten uns ins Funktionieren. Bestenfalls. Machen, was wir können: Wir rufen Hilfe, wir assistieren, wenn unsere Frauen blutend aus dem Haus getragen werden, oder führen sie zum vereinbarten Termin ins Krankenhaus. Wir sitzen beim Ultraschall neben ihnen. Wir sitzen in Krankenzimmern an ihrer Seite. Wir begreifen die Welt nicht, die gerade aus den Fugen gerät. Dabei hören wir Menschen, die uns sagen, es sei vielleicht für etwas gut gewesen. Wahrscheinlich habe das Kind eine Krankheit gehabt. Oder gar eine Behinderung, es sei uns viel erspart geblieben. Ich entschuldige alle, die so etwas sagen. Sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Sie denken vielleicht, es tröste uns. Sie kannten das Kind nicht, das wir in unseren Armen hielten. Es gibt keine Geschichte, die wir teilen können, kein Erlebnis, keine Anekdote. Unser Kind hat in ihren Augen nie existiert, blieb lediglich ein dicker Bauch, blieb ein Ultraschallbild.
Während die Sonne hinter Pablos Apfelbaum versank, während meine Frau sich neben mich setzte und wir gemeinsam warteten auf Emilia, da ertönte ein weiterer Alarm. Ich blickte auf mein Smartphone und las von Mira, die gerade zur Welt gestorben sei. Man brauche einen Fotografen. Das Krankenhaus liegt nur 30 Autominuten entfernt, alles war parat, auch wir. So entschieden wir, den Alarm anzunehmen. Ich telefonierte mit einer Hebamme. Dann fuhren wir los. Mira wurde 17 Wochen alt. Sie maß die Länge einer Hand. Wir ließen uns Zeit, sprachen lange mit der Mutter und kleideten das kleine Mädchen. Ich fragte nach dem Vater. Mit dem sei es schwierig, seufzte die Mutter. Nicht alle Väter funktionieren. Dann entstanden die ersten Bilder. Die kleine Mira in einer Hand. Liebevolles Betrachten. Tränen. Streicheln.
In jenen wenigen Minuten, in denen wir uns einem verstorbenen Kind nähern, versinkt die Welt. Alles vergeht. Es geschieht im Bruchteil einer Sekunde. Dahinter wartet die Ewigkeit. Das Dasein entschwindet vollkommen. Da bleiben nur das Kind und das Objektiv. Oft denke ich danach: Am Ende waren da nur eine Kamera und ein Baby. Meine Frau blieb auch an diesem Abend fast unsichtbar und arbeitete dennoch vor dem Kameraauge. Sie positionierte die Hände, die Füße, den kleinen Körper. Sie führte das Licht, sie wies mit winzigen Bewegungen auf Details. Stets sitzen wir nach unserer Arbeit am Küchentisch und blättern die Aufnahmen durch. Solche Augenblicke bleiben die bewegendsten Momente des Schweigens. Nicht so an diesem Abend. Noch während ich fotografierte, rief Emilias Vater an. Seine Tochter sei nun geboren. Bald darauf verließen wir das Krankenzimmer. Ich war unzufrieden. Fotografieren wir ein Kind, so hat die Welt stillzustehen.
Wir wechselten in die Uniklinik der Hauptstadt. Inzwischen war es elf Uhr nachts. Wir traten in ein Gebärzimmer. In ein Tuch gewickelt lag Emilia auf einer Matte. Sie war 28 Wochen alt geworden, maß 35 Zentimeter, brachte ein Kilogramm auf die Waage und war wunderschön. Der Vater mit tränenroten Augen. Die Mutter traurig, aber lächelnd. Sämtliches wiederholte sich. Wir machten die ersten Bilder. Die Mutter kleidete ihr Kind selbst. Vollkommen zart und hingebungsvoll ihre Bewegungen. Ich erkannte winzige Härchen. Wunderschön. Erneut versanken wir in der gestellten Aufgabe. Die Schönheit zu sehen bleibt das Einzige, was zählt. Ein Foto betrachten zu dürfen ist nichts Geringeres, als einen Beleg dafür in den Händen zu halten, dass es den kleinen Erdenmenschen gegeben hat. Für den Vater war Emilia das erste Kind. Die Mutter hatte bereits Kinder in die Beziehung mitgebracht. Beim Abschied erwähnte ich, dass Emilia eine Sternenkindschwester habe. Der Vater meinte, so seien sie nun drei: Nebenan sei gerade auch ein Sternenkind zur Welt gekommen. Meine Frau und ich, wir wissen seit 30 Jahren: Es geschieht. Es geschieht jeden Tag und betrifft jede zweite Frau mindestens ein Mal in ihrem Leben. Als ich die Hebamme fragte, ob das Kind nebenan auch zu fotografieren sei, meinte sie kurz angebunden: „Die sind schon weg.“ Immer wieder wühlen uns solche Sätze auf.
Nachts notierte ich, heute sei etwas geschehen mit mir. Heute sei ein Tag, der erneut nicht spurlos an mir vorübergegangen sei. Ich spürte diese grässlich schwarze Stille. Dieses große Schweigen einer unendlich bedrückenden, unbeantworteten Frage: Warum? ♦
VERA UND RAINER JURIATTI haben fünf Sternenkinder. Als Eltern weiterer zwei – erwachsener – Kinder arbeiten sie ehrenamtlich als Sternenkindfotografen. Das Autorenpaar lebt in Graz und hat ein Buch für Eltern („Die Abwesenheit des Glücks“) sowie ein Vorlesebuch für Geschwisterkinder („Leon & Louis oder: Die Reise zu den Sternen“) veröffentlicht. Im Frühling 2021 initiierten sie die „Sternenkind Box“, eine vom Land Steiermark und der Landeshauptstadt Graz getragene Handreichung für Sternenkindeltern: Die Box enthält die wichtigsten Informationen und Hilfsadressen für die Zeit nach einer stillen Geburt.
www.juriatti.net
Drüber reden hilft
Lange Zeit wurden Sternenkinder nur im Stillen betrauert. Heute ist die Begleitung von Eltern mit stillen Geburten ein Schwerpunkt in der Seelsorge der Katholischen Kirche in Oberösterreich. Gedenkfeiern und Gedenkorte laden ein, der Trauer Raum zu geben. Die Katholische Frauenbewegung bietet Möglichkeiten, Rituale zu Hause zu gestalten.
Betroffene Eltern können sich an die Krankenhausseelsorge (Tel. 0732/76 10-3530), die Telefonseelsorge 142 und die Beratungsstellen von BEZIEHUNGLEBEN.AT (Tel. 0732/77 36 76) wenden.
World-wide Candle Lighting Day am 2. Sonntag im Dezember
Familien gedenken weltweit ihrer verstorbenen Kinder, indem sie um 19 Uhr eine Kerze ans Fenster stellen. Heuer fand das Gedenken am 12. Dezember 2021 statt.
www.dioezese-linz.at/sternenkinder
Dieser Beitrag ist erstmals in "Grüß Gott!" – Magazin über Gott und die Welt, herausgegeben von der Katholischen Kirche in Oberösterreich, im Herbst 2021 erschienen.